Mariella Mehr und ihr Sohn Christian Mehr waren Opfer des Hilfswerks Kinder der Landstrasse. Ihre Beziehung haben diese traumatischen Erfahrungen fast zerstört.
Der Bund/Tagesanzeiger, Alexander Sury
«Ich habe zu viel Scheisse im Kopf. Zu viele Bilder, zu viele Ideen, zu viel Ungerechtigkeit. Das muss raus. Ich werde im Frauengefängnis Hindelbank geboren. Dort wird meine Mutter weggesperrt, weil sie mit mir schwanger ist.» Das ist die Stimme von Christian Mehr, Sohn der Schriftstellerin Mariella Mehr, die im vergangenen Jahr 75-jährig gestorben ist.
Aufgeschrieben hat diese Worte der Autor Michael Herzig im Buch «Landstrassenkind», einem Doppelporträt über eine Mutter und ihren Sohn, die beide Opfer des Hilfswerks Kinder der Landstrasse waren. Ihre Beziehung haben diese traumatischen Erfahrungen fast zerstört.
Christian Mehr kommt im Alter von 11 Monaten zu einer Pflegefamilie in Hindelbank. «Der Dorfpfarrer hat eine Familie aufgetrieben, die mich zum Kuhschweizer machen soll.» Gleichentags wird seine Mutter Mariella aus dem Gefängnis entlassen. Ihr Vergehen: Sie war schwanger geworden. Der Vater des Kindes ist ein Angehöriger der Roma, Siro Moja, der in der Schweiz als Portier arbeitete und dort die junge «Buffetdame» Mariella Mehr kennen gelernt hatte. Für die Behörden ist das eine unerwünschte Verbindung, die es zu unterdrücken gilt.
Anfang des 20. Jahrhunderts hatten sozialdarwinistische und rassenhygienische Theorien Hochkonjunktur: Der Volkskörper sollte geschützt werden vor Parasiten aller Art und Menschen mit angeblich «minderwertigen» Erbanlagen.
Auch die Schweiz bildete hier keine Ausnahme. Aus den Fahrenden, den Jenischen, galt es, «brauchbare» Bürger zu machen. Das Hilfswerk Kinder der Landstrasse wurde 1926 mit dieser Zielsetzung von der Stiftung Pro Juventute gegründet – diese wiederum erhielt auch Bundesgelder.
Bei der Wahl der Mittel war man unzimperlich: Die Stiftung nahm die Kinder den Eltern weg, platzierte sie bei Pflegefamilien oder in Heimen und liess sie in vielen Fällen auch psychiatrisch zwangsbehandeln. Zwischen 1926 und 1973 wurden annähernd 600 Kinder Opfer der Zwangsassimilierung von «Vagantenfamilien».
Michael Herzig: Landstrassenkind. Die Geschichte von Christian und Mariella Mehr. Limmat-Verlag, Zürich 2023. 160 S. 35.60 Fr. Veranstaltung mit dem Autor: Literaare Thun, Frachtraum, Sa., 11.11., 18 Uhr.