«Heimatlose» und «Vaganten»
Maria Klinger, Korberin, und Michael Huser, Geschirrhändler, 1852/53. Bei der Umsetzung des Heimatlosengesetzes sahen sich die sogenannten Vaganten besonders diskriminierenden Massnahmen ausgesetzt: Zur Ermittlung des Einbürgerungskantons wurden 800 bis 900 Personen während Monaten interniert, verhört und vom Berner Fotografen Carl Durheim in inszenierter Pose abgelichtet. Lithographien der Bilder wurden dann den Untersuchungsbehörden in den Kantonen als Fahndungsinstrument zur Verfügung gestellt.

Nation und Bürgerrecht

Text: Regula Argast

Mit der Gründung des schweizerischen Bundesstaats im Jahr 1848 entstand in der Schweiz die moderne Staatsbürgerschaft mit ihren Idealen der Freiheit und Gleichheit. Die Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung profitierte zunächst jedoch nicht von den Integrationsleistungen des jungen Bundesstaats. Diskriminiert waren ausser Frauen, Juden und Mittellosen auch die nichtsesshafte Bevölkerung.

Das dreistufige Schweizer Bürgerrecht

Jede Schweizerin und jeder Schweizer gehört drei verschiedenen Gemeinwesen als Bürgerin oder Bürger an: Gemeinde, Kanton und Bund. Die einzigartige Dreistufigkeit entstand mit der Gründung des schweizerischen Bundesstaats im Jahr 1848. Damals kam das bundesstaatliche Bürgerrecht als drittes Element zum jahrhundertealten Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht hinzu.

Bürgerrechtlicher Ein- und Ausschluss

Die Bundesverfassung von 1848 garantierte den männlichen Schweizer Bürgern die Niederlassungsfreiheit und die politischen Rechte in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten. Davon ausgeschlossen blieben vorerst aber Schweizer Frauen, Juden, Mittellose und strafrechtlich Verurteilte. Sie waren von der Vorstellung der schweizerischen Nation als einer Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger ausgenommen.  Überdies gewährten die Gemeinden das Stimm- und Wahlrecht in Gemeindeangelegenheiten, die Nutzung des Bürgerguts und das Recht auf Unterstützung bei Armut auch weiterhin nur ihren Bürgern.

Das «Heimatlosengesetz» von 1850

Während Jahrhunderten hatten die Gemeinden Bürgern bei längerer Ortsabwesenheit, bei Heirat über Konfessionsgrenzen oder bei einer strafrechtlichen Verurteilung das Heimatrecht entzogen. Ohne Nutzungsrechte oder das Recht auf Armenunterstützung waren viele dieser «Heimatlosen» zu einer fahrenden Lebens- und Wirtschaftsweise gezwungen worden (Fahrende).

Um sich als demokratischer Staat zu legitimieren, musste der junge Bundesstaat sein Staatsvolk definieren. Eines seiner dringlichsten Ziele war dabei die Beseitigung der Heimatlosigkeit. Das «Bundesgesetz, die Heimathlosigkeit betreffend» vom 3. Dezember 1850 bestimmte, dass der Bund und die Kantone für die Heimatlosen ein Kantons- und Gemeindebürgerrecht ermittelten. Als heimatlos galten gemäss Artikel 2 des Gesetzes die von einem Kanton anerkannten «Geduldete[n] oder Angehörige[n]», die weder in einem anderen Staat noch in einem schweizerischen Kanton oder einer Gemeinde ein Bürgerrecht besassen, sowie die sogenannten «Vaganten». Dabei handelte es sich um eine heterogene Bevölkerungsgruppe, die sich durch eine nichtsesshafte Lebensweise auszeichnete. Bis 1872 nahmen die Kantone und Gemeinden rund 25’000–30’000 «Heimatlose» als Bürger auf. Damit gelang es dem Bund, den unsicheren Rechtsstatus der Heimatlosigkeit grösstenteils zu beseitigen.

Einschränkung und Kontrolle der nichtsesshaften Lebensweise im jungen Bundesstaat

Mit dem «Heimatlosengesetz» von 1850 verfolgte der Bund ein weiteres Ziel: Er wollte die Armutswanderung einer wirksamen staatlichen Kontrolle unterwerfen und die nichtsesshafte Lebens- und Wirtschaftsweise einschränken. Dabei kam es zur Kriminalisierung verschiedener Formen der Nichtsesshaftigkeit. Gemäss Artikel 18 des Gesetzes sollten «[b]eruflos umherziehende Vaganten und Bettler» mit «Verhaft oder Zwangsarbeit» bestraft werden. Artikel 19 untersagte denjenigen Personen, die «auf einem Berufe oder Gewerbe herumziehen, […] das Mitführen von schulpflichtigen Kindern». Diese Bestimmung erschwerte die Subsistenz von Familien, die ihren Lebensunterhalt als fahrende Händler oder Gewerbetreibende bestritten. Gleichzeitig unterliefen die Gemeinden die Integrationsmassnahmen des Bundes: Während die nichtsesshaften Familien gezwungen waren, sich an die sesshafte Lebensweise der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft anzupassen, mussten die Heimatgemeinden ihren Neubürgern keine Nutzungsrechte gewähren. Die Forschung geht davon aus, dass sich mit dem «Heimatlosengesetz» die prekäre Lebenslage der nichtsesshaften Bevölkerung eher verschlechterte als verbesserte, da sie nun stärker als zuvor an den Rand der Gesellschaft gedrängt war.