Mit seinem vierten Roman «Jenische Reise» erfindet der Zürcher Schriftsteller Willi Wottreng einen bewegenden Erzählbogen zu 888 Jahren Kultur der Jenischen mit einer weiblichen Hauptfigur.
Handruedi Kugler - CH Media, 1.12.2020
Wenn ein überzeugter Alt-68er Romane schreibt, wird man jede Menge linke Gesellschaftskritik erwarten – je nach eigenem Standpunkt freudig oder verdrossen. Engagierte Literatur? Der 72-jährige Willi Wottreng pariert dieses Schlagwort und schüttelt den Kopf. Denn wenn er an seinem Schreibpult sitzend («mein Cockpit») in Etage 4 seiner Wohnung auf die belebte Stauffacherstrasse im Zürcher Langstrassenquartier hinunterschaut, hat er zwar die vielstimmige Multikulti-Gesellschaft vor Augen. Und für sein Quartier sitzt er seit kurzem mit der Alternativen Liste im Zürcher Gemeinderat. Aber er sagt: «Ich bin seit Jahrzehnten ein engagierter Mensch, aber in meinen Romanen verfolge ich keine tagesaktuellen Anliegen. Literatur soll kein Pamphlet sein. Da geht es mir um existenzielle Fragen wie Würde, Anerkennung, Armut, Ausgeschlossensein und um die Mitte und den Rand unserer Gesellschaft.»
Mit 888 Jahren blickt Anna auf ein langes Leben zurück
Tatsächlich kommt sein aktueller Roman «Jenische Reise» mit einem klischeefreien Blick aus – ohne anklagenden Ton und ohne melodramatische Zuspitzung. Vielmehr sind Würde und Anerkennung zentrale Motive. «Jenische Reise» ist eine originelle, gut recherchierte und trotzdem erfundene Kulturgeschichte der Jenischen. Literatur also, kein Sachbuch. Denn eine Chronologie der Jenischen zu schreiben, sei fast unmöglich, nur schon deren Herkunft und Ursprung seien unklar. Deshalb müsse man plausible Geschichten erfinden, ist Wottreng überzeugt. Aber Mythen nachplappern, wolle er nicht: «Da war keine verstossene ägyptische Prinzessin am Anfang.» Wottrengs eigene Deutung: «Während der europäischen Geschichte des vergangenen Jahrtausends bildete sich eine Unterschicht, die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen zum mobilen Handel und Handwerk gezwungen worden ist, und die sich immer wieder neu mit anderen Schichten vermischte.» Vermeintlich homogene Begriffe wie Rasse oder Nation werden so subtil unterlaufen.
In «Jenische Reise» erzählt die 888 Jahre alte Anna aus einer psychiatrischen Klinik heraus episodenhaft ihr Leben: Im 12.Jahrhundert als Tochter eines Kreuzfahrers im griechischen Thessaloniki geboren und verstossen, danach über viele Stationen im Armenviertel Kohlenberg in Basel, als Siedlerin in Ungarn, als Marktfahrerin im Dreissigjährigen Krieg bis ins Nazi-Deutschland und in die 1968er-Bewegung. Ein Jahrtausend und ein Leben mit immer wieder anderen Männern und vielen Kindern. Es ist ein Leben als stetiger Neubeginn, mit kreativem Überlebenswillen, Lebenslust und vielen Berufen; ein Leben als Geschichte eines Jahrtausends der Unterschicht; ein Leben, das als Strassenkind im 12. Jahrhundert beginnt und als Schrotthändlerin im Elsass im 21. Jahrhundert zur Neige geht. Einmal, nur einmal, in Wien, spielt sie mit ironischem Gestus sogar jene Rolle, auf die man klischeehaft die «Zigeunerin» reduziert: auf die tanzende Temperamentbombe à la Carmen und betrügerische, Tarotkarten legende Wahrsagerin. Dass dieses Bild erst durch Opern- und Operettenkomponisten im 19.Jahrhundert zum dominanten Klischee geworden ist, ist eine der untergründigen Aufklärungsbotschaften des Buchs. Denn Wottreng lässt seine Anna in den Jahrhunderten alle möglichen, selbstständigen Berufe ausüben. Am melancholischen Lebensende verabschiedet sich Anna aus Wottrengs Roman auf dem Fensterbrett stehend und sagt: «Ich fliege. Ich fliege. Ich bin frei.»
Seit einer Reportage 1993 ist er von Jenischen fasziniert
Romane schreibt Willi Wottreng erst seit seiner Pensionierung, unter anderem über RAF-Unterstützer im Zürich der 1970er- Jahre und über einen Irokesenhäuptling, der zu Beginn des 20.Jahrhunderts beim Völkerbund in Genf für sein Volk kämpfte. Zuvor war der studierte Historiker erst als Lehrer und Buchhändler, dann jahrzehntelang als Journalist tätig: beim «Tages-Anzeiger», der «Weltwoche» und der «NZZ am Sonntag». Den Zürcher Journalistenpreis gewann er 1994 für eine Reportage aus dem 31er-Bus, der vom Zürcher Bahnhof ins Langstrassenquartier und in die multikulturelle Agglomeration fährt. Berühmt waren später seine Nachrufe in der «NZZ am Sonntag», die er zu geschliffenen und pointierten Miniaturen der Zeitgeschichte verdichtete. Sein Faible für Aussenseiter hat er immer schon gepflegt. Biografische Bücher über den Rockerboss Tino, die Prostituierte Lady Shiva, den Gangster Deubelbeiss, den Geldfälscher Farinet. Während seiner Studentenzeit in den späten 1960er-Jahren war er Aktivist einer maoistischen «Kommunistischen Partei». Das gehöre halt zu seinem Leben, sagt er heute, «als Teil meines Engagements für eine bessere Gesellschaft», und ergänzt: «Es war der falsche Weg eines lebenslangen Romantikers.» Dass diese Romantik angeregt wurde, als er 1993 für eine grosse Reportage in der NZZ sechs Deutschschweizer Jenische und Sinti porträtierte, will er nicht abstreiten. «Ich habe zwar über lothringisch-ungarische Vorfahren Verbindungen in jenische Milieus», stellt er klar. Aber seine Generation sei mit Winnetou aufgewachsen, und er habe sich schon früh gefragt, warum man sich nicht für die hiesigen «Indianer» interessieren sollte. «Beide Gruppen verbindet ihr spezielles Freiheitsgefühl und die traumatische, kollektive Erfahrung von Kindeswegnahmen», sagt Wott-reng. Was ihn dazu bringe, sich für die Jenischen zu engagieren, sei seine eigene Sensitivität für Verletztheit und gesellschaftliche Aussenseiter. Seit jener Zeit steht er in Kontakt zu den Jenischen in der Schweiz, und seit 2014 ist er zudem Geschäftsführer der Radgenossenschaft. Dessen Präsident Daniel Huber sagt denn auch zum Roman: «Eine solche Geschichte kann nur jemand schreiben, der dieses Volk sehr gut kennt, oder der zu ihm gehört.»
Willi Wottreng Jenische Reise. Roman. Bilger Verlag, 213 S.